Life happens
Imaginäres Gespräch mit einem Psychologen
Sonntag, 6. Januar 2008, 17:30
"Herr Doktor, ich fühle mich vom Tempo unserer Zeit überrannt."

- Ach ja? Wer oder was gibt Ihnen denn dieses Gefühl?

"Wissen Sie, es ist einfach so. Ich sauge alles auf an Informationen, egal welcher Art. Und trotzdem habe ich das Gefühl das meiste, ich meine das meiste an Wichtigem, trotzdem zu verpassen."

- Das ist doch ganz natürlich. Wir leben in einem Zeitalter, in dem jeder von Informationen überschwemmt wird. Sie müssen lernen das Essentielle zu selektieren, die Spreu vom Weizen zu trennen. Das ist nicht immer einfach, aber glauben Sie mir: anderen Menschen geht es nicht anders.

"Ja, das denke ich auch nicht. Was Sie sagen, weiß ich ja eigentlich. Aber auch wenn ich mich speziell nur mit einem Thema befasse - ich habe das Gefühl, bis ich kapiert habe um was es geht ist die Entwicklung schon wieder zwei Schritte weiter und ich schaffe es einfach nicht zu diesem einen Punkt zu gelangen, an dem ich sagen kann: jetzt bin ich auf dem neuesten Stand."

- Glauben Sie denn, dass das so wichtig ist? Ist es nicht auch wichtig, den Lauf der Dinge zu betrachten und Zusammenhänge zu erkennen?

"Ja, das ist natürlich nicht unwichtig. Aber schauen Sie, dieses Aufsaugen in hohem Tempo ohne je die Ziellinie zu erreichen, das lässt sich auch auf mein ganzes Leben übertragen. Ich schufte mich ab, in der Uni, auf der Arbeit, den Haushalt ignorieren wir jetzt mal. Ich versuche pro Semester möglichst viel vom Gesamtpensum hinzukriegen. Ich bemühe mich fortlaufend um Praktika, um sinnvolle Nebenjobs, die mir für meinen weiteren Lebensweg notwendiges Know-how geben können. Ich sitze wirklich nicht faul rum, habe kaum Zeit zur Erholung, weil immer eine seitenlange To-Do-Liste in meinem Nacken hängt. Und Urlaub sowieso eigentlich nicht. Kurz gesagt: Ich mühe mich ab, hetze mich ab, und wenn ich mich umschaue habe ich doch das Gefühl "ich komme nicht nach".
Das schlimmste dabei ist, dass ich ständig in ein Loch abrutsche, eine dunkles, deprimiertes Loch."

- Ein Loch?

"Ja, was heißt Loch. Eine emotionale Ohnmacht. Und ich glaube, die Ursache dafür ist, dass ich in dem ganzen Stress völlig vergesse, was ich eigentlich will.
Wissen Sie, ich werde erst 21 und habe das Gefühl, dass mein Leben mit 200 km/h an mir vorbeirast. Ich renne so schnell ich kann, aber schneller als 20 km/h kann ich nicht rennen. Ich gelange so weiter und weiter ins Hintertreffen, stolpere noch, stürze, die Lungen brennen, ich strecke die Arme aus und sehe mein Leben in der Ferne davonrennen. Ich fange an zu schluchzen, mein Brustkorb hebt und senkt sich in rasantem Tempo, ich keuche, der Kehlkopf schmerzt. Ich plumpse auf den rauhen Boden. Meine Arme sind schwer, meine Beine noch schwerer. In meinem Kopf diese Ohnmacht, ein leichtes Schwindelgefühl. Ich schlucke, stütze meine Handflächen auf den sandigen Boden und stehe schwerfällig auf. Ich starre in die Richtung, in die mein Leben davongelaufen ist. Ich drehe mich um und sehe meine Vergangenheit. Sie lächelt mich an und sagt mir: du hast nichts falsch gemacht. Du hast immer dein bestes gegeben und brauchst dich nicht schlecht zu fühlen. Ich sehe aber auch meine Kindheit und Jugend, sehe wie ich alles andere als leistungsorientiert war. Fliegende Gedanken, tiefgründige Gedanken über die Erde, die Natur, eine tiefe Zuneigung zur Natur. Kreatives Schaffen. Sägen, zeichnen, malen, bauen. Murmelbahnen, Portraits, Comics, Häuser aus Ästen und Zweigen. Ich sehe mich, einen Träumer.
Jetzt habe ich nur noch Alpträume nachts."

- Das ist doch nichts ungewöhnliches. Die Kindheit geht vorbei mit allen spielerischen Facetten. Der Mensch wird erwachsen und muss sich um ernsthaftere Dinge kümmern. Sie stehen jetzt an einem Punkt, an dem sie akzeptieren müssen, dass das Leben nicht einfach ist. Es wird einfach ernster und das wirkt sich eben auf alles aus.

"Ja, darüber habe ich ja auch schon nachgedacht. Früher musste ich mir keine Gedanken um Geld machen. Ich hatte wenig und es machte mir nichts aus, weil ich trotzdem ein warmes Zuhause und genug zu Essen hatte. Heute muss ich Rechnungen bezahlen, meine Miete bezahlen, mich um so viel kümmern, so viel organisieren. Und in letzter Zeit habe ich gemerkt, dass ich eigentlich kaum dazu in der Lage bin. Ich sage ja auch immer, ich bin verpeilt. Und warum? Weil ich in dem ganzen Stress immer noch irgendwelchen Gedanken nachhänge. Die gehen zwar nicht mehr so weit wie früher, aber sie wollen gedacht werden. Dabei vergesse ich immer so viele Dinge."

- Das geht doch jedem so. Sie sollten sich vielleicht angewöhnen, mehr Listen zu schreiben.

"Ja, die habe ich doch. Aber ich lasse sie dann irgendwo liegen oder vergesse die wichtigsten Dinge drauf zu schreiben."

- An was denken Sie denn, wenn Sie die Listen schreiben?

"Keine Ahnung! An alles außer das wichtige. Nagut, das ist ein wenig übertrieben. Sagen wir 2/3 oder 3/4 der wichtigsten Dinge schreib ich mir schon auf. Aber diese organisatorischen Sachen, Probleme, die Gedanken darüber, die machen mich einfach unheimlich müde.
Wissen Sie, in letzter Zeit blitzt bei mir manchmal der Grundgedanke in Thomas Manns Werken auf: die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Wie passt das jetzt zu meiner Situation? Gleich vorweg: ich mag das Wort "Kunst" oder "Künstler" überhaupt nicht. Was mein Gedanke dahinter ist: entweder bin ich ein wirtschaftlich denkender Mensch, der sein Leben auch gut organisieren kann und trotzdem Spaß hat, oder ich bin ein Träumer, ein Freigeist, der das trockene, das organisatorische in seinem Leben überhaupt nicht auf die Reihe kriegt. Der dekadent ist und früh stirbt.
Ich würde mich jetzt auf keinen Fall als dekadent bezeichnen, aber ich glaube, ich tue mich wirklich schwer mit dem Leben, weil ich tief in meinem Inneren ein Träumer bin."

- Das klingt sehr philosophisch.

"Ja, aber verstehen Sie, was ich meine? Seit ich so viel "nützliche" Leistung erbringe, praktisch seit Klasse 12, habe ich nichts mehr kreatives geschaffen. Ich bezeichne mich schon lange als unkreativ. Das macht mich irgendwie krank."

- Sie stellen vielleicht zu hohe Ansprüche an sich. Sie sollten Ihre Leistungsanforderungen an sich selbst herunterschrauben und sich mehr Zeit gönnen weltlich gesehen "sinnlose" Dinge zu machen.

"Aber da wären wir dann beim Anfangsproblem! Wenn ich noch langsamer renne, schaffe ich überhaupt nichts mehr."

- Was wollen Sie denn schaffen?

"Ich weiß es nicht, aber ich will doch einen guten Beruf, der mir wenigstens ein bisschen Spaß macht."

- Und Sie glauben, durch ungebrochene Leisung dahin zu gelangen?

"Ich weiß es doch nicht... aber ich will mir mal nicht vorwerfen, ich hätte nicht mein bestes gegeben."

- Aber wie hoch ist der Preis dafür? Und mit 30 sind Sie dann so ausgebrannt, dass Ihnen kein Beruf mehr Spaß macht?

"Ja... da haben Sie schon Recht..."

- Wissen Sie was: Wir beenden heute erstmal die Sitzung. Sie denken darüber nach, wie es wohl in 10 Jahren sein wird, wenn Sie so weitermachen wie bisher. Na, was halten Sie davon?

"Ja, okay."

- Gut. Bis zum nächsten Mal!

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